Angst vor dem Gesichtsverlust

Maya und die Wasserflasche

...und wie wir unsere Gesichter gewahrt haben

Supervision Fallsupervision Beratung

Maya war ein 14-jähriges Mädchen die vorne rechts im Klassenraum saß. Innerhalb der Klasse war sie starkem Mobbing ausgesetzt, oft bezogen auf ihre Figur und Hygiene. Sie war recht impulsiv und versuchte, so konnte man es zumindest interpretieren, den Weltrekord in „Gläser durch schreien zerbrechen zu lassen“ zu erhalten. Maya hatte jeden Tag eine 1,5 Liter Flasche Wasser mit, die sie zu Beginn des Unterrichtstages aus ihrer Tasche nahm und auf den Tisch stellte. Nach kurzer Zeit begann sie, diese zu öffnen, einen Schluck zu nehmen, noch etwas mehr Wasser aufzunehmen, nun ein wenig zu gurgeln, ihren Mund damit zu spülen, das Wasser wieder in die Flasche zu spucken, wieder einen Schluck zu nehmen, mal jemandem drohen ihn oder sie damit anzuspucken und gelegentlich tat sie dies auch. Dies vollzog sich Tag für Tag, mal etwas mehr, mal etwas weniger. Als ich eines morgens etwas erklärte, dabei vorne rechts stand und Maya mal wieder den Mund voll Wasser hatte, dabei apathisch in meine Richtung starrte, sah ich sie an und sagte etwas sehr dummes: „Maya, ich warne dich!“ Sie schaute mich irritiert und aus ihrem Traum rausgerissen an und spuckte den Schluck Wasser langsam zurück in die Flasche. Man konnte merken, wie langsam der Groschen fiel und sie kapierte, was ich meinte. Sie schaute mich kritisch an und fragte: „Was sonst?“ Worauf ich selbst es nicht aushielt zurückzurudern und sagte: „Dann nehme ich deine Flasche und trinke diese auf ex aus.“ – Sie sah mich prüfend an, der Rest der Klasse verstummte. Nach kurzer Überlegung erwiderte sie: „Das trauen Sie sich nicht!“ Auf meine Frage: „Warum nicht?“ konterte sie: „Weil Sie mich ekelig finden!“ ich sah sie konzentriert an und sagte, dass es egal sei wie ich sie fände, ich würde die Flasche austrinken. Sie nahm daraufhin einen großen Schluck aus der Flasche, die ein Mix aus Wasser und Speichel war, die Klasse hielt den Atem an, sie blickte mich an und spuckte mich von oben bis unten voll. Dann war Stille. Ich versuchte kurz zu verstehen, dass das grade wirklich passiert war und sagte mir, dass ich das nun verdient hätte und da jetzt durchmüsse. Ich ging auf sie zu, worauf sie etwas zurückrückte, nahm ihr ihre Flasche aus der Hand, setzte an und trank diese komplett aus. Nachdem ich ihr die leere Flasche auf den Tisch stellte, blickte sie mich mit großen Augen an, fing an zu schreien, stieß ihren Tisch nach vorne und den Stuhl nach hinten und rannte schreiend aus dem Klassenraum. Die Tür knallte sie zu. Der Rest der Klasse schüttelte sich kurz und teilte mir mit, dass ich der ekligste Typ sei, den sie je getroffen haben, da ich das getrunken hätte. Ich sagte der Klasse, dass sie nun Pause hätten und raus dürften. Ich wurde darauf hingewiesen, dass es noch keine Pausenzeit wäre, worauf ich erwiderte, dass ich entscheide, wann Pausen sind und nun sei eine, bis ich sie wieder reinhole. Ich lief in den Lehrkräftetrakt ins Bad und übergab mich. 

Nachdem ich wieder einigermaßen fit war, holte ich die Klasse rein und spürte, dass da was anders war. Ich hatte mir den Respekt gewonnen, ich war nun einer von ihnen.

Aber nicht nur ich, alleine, dass Maya dies durchgezogen hat, hat dazu geführt, dass sie ein großes Maß an Anerkennung erhielt und die Klasse sie als „cool“ wahrnahm. Von der ewigen Außenseiterin kam sie in die „Mitte“, sie wurde immer noch als „schwierig“, aber auch als „cool“ wahrgenommen, was ihr mehr Ruhe und Kraft gab.  

Maya hat seit diesem Tag morgens ihre Flasche rausgeholt, mich angesehen und gewartet, dass ich reagiere, was ich jeden Morgen tat. Ich sagte zum Beispiel: „Ich bekomm‘ schon wieder Durst, wenn ich das sehe…“ Worauf sie „Nein!“ rief, die Flasche in die Tasche packte, mich angrinste und der Tag in der Regel gut verlief. 

 

In dieser Situation haben Maya und ich gleichermaßen verloren, da wir beide Angst hatten unser Gesicht vor der Klasse und vor einander zu verlieren. Die Aussage „Ich warne dich“ zwingt unser Gegenüber, eine bestimmte Sache doch zu tun. In der Situation habe ich es deutlich verdient, angespuckt zu werden, weil ich Maya in die Ecke gedrängt habe und es keinen anderen Ausweg mehr gab. Es gab nur die Möglichkeiten „Angriff oder Flucht“. „Flucht“ wäre keine Option gewesen, da sie sowieso schon stark unter Mobbing in der Klasse litt und dies das nur verstärkt hätte, da sie dann auch noch als feige gegolten hätte. Es blieb ihr nur der „Angriff“. 

Es wäre besser gewesen, hätte ich es geschafft, ihr und mir einen Ausweg aufzuzeigen, um aus dieser Spirale herauszutreten. Ich habe so dafür gesorgt, dass es sich erst hochgeschaukelt hat und habe mir die Krise selbst zugeführt. Auch, wenn dies ein etwas extremeres Beispiel ist, kennen wir dies in anderer Form sicherlich alle. 



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